Ich kann es kaum fassen: wir haben Anfang Oktober und alle großen Alpenpässe sind noch offen. Das wird auch heute ein toller Tag werden, da bin ich mir sicher. Schon der Sonnenaufgang am frühen Morgen direkt am Meer war wieder ein ganz besonderes Erlebnis.
Heute geht es wieder Richtung Heimat. Gegen 14 Uhr kann ich mich endlich auf den Weg machen. Es geht die Küste entlang, dann kämpfe ich mich noch einmal durch Nizza und fahre anschließend durch das Tal des Tinée Richtung Bonette. Unterwegs lege ich wieder den einen oder anderen Fotostopp ein und genieße die vielfältigen Eindrücke.
In Clans lädt eine kleine Boulangerie/Patisserie zu einem kleinen Stopp. Es ist halb zwei, da kommt ein spontaner Café Creme und eine leckere Quiche Poireau Parmesan gerade recht. Ich sitze im Schatten, schaue nicht auf die Uhr und lasse mir das Essen schmecken. Von hier aus sind es noch gut 70 Kilometer bis zur Cime de la Bonette.
Bei strahlendem Sonnenschein setze ich meine Fahrt fort. Je höher ich komme, umso geringer wird die Vegetation. Vor Murmeltieren wird gewarnt – gesehen habe ich keine. Die Berge bilden ein prächtiges Panorama, an dem ich mich nicht satt sehen kann. Stellenweise fahre ich mit gerademal 40 km/h die Straße entlang – bei meinen Gruppenreisen völlig undenkbar. Da steht der Fahrspaß im Vordergrund, heute der visuelle Genuss.
Endlich finde ich die Zeit, an den Ruinen alter einstmals militärisch genutzter Wohngebäude unterhalb des Restefonds anzuhalten. Bislang sind wir hier immer durchgerauscht. Ich entdecke an den Bergflanken alte Festungen und Geschütztürme und versuche mir vorzustellen, wie und unter welchen Bedingungen hier einst Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen „gelebt“ haben, wo wir heute nur unseren Spaß haben.
Bald darauf ist die Passhöhe des Col de la Bonette (2715 Meter) erreicht. Die Straße zur 2802 Meter hohen Cime de la Bonette ist bereits gesperrt, an der Nordflanke liegt der erste Schnee.
Sicher wäre die Straße passierbar gewesen. Da ich aber noch ein paar Kilometer zu fahren habe und unterwegs noch einen Kaffee trinken möchte, verzichte ich auf den Abstecher und fahre weiter Richtung Jausiers. Unterwegs finden sich wieder viele schöne Fotomotive.
Ich folge dem Lauf der L‘Ubaye und biege bald darauf auf die D902 ab, die mich hinauf auf den Col de Vars (2109 Meter) führen wird. Die Sonne steht schon tief und verschwindet, je nach Streckenverlauf, bald schon hinter den Bergen. Ich muss mich beeilen. Ein alter Landy vor mir macht bereitwillig Platz – wir werden uns am Vars wiedersehen.
Es ist kurz nach fünf, als ich die Passhöhe erreiche. Ein großes Stück Wallnusskuchen und eine heißer Milchkaffee stehen vor mir, als die Sonne so langsam beginnt, hinter den Bergen zu verschwinden. Was für ein timing. Auf der Terrasse sitzend genieße ich das „Schauspiel“ – aber nur, weil ich den Abstecher am Bonette ausgelassen habe. Wieder einmal fügt sich alles zusammen.
Als ich aufbrechen will, stoppt der alte Landy am Pass. Ein altes Ehepaar steigt aus und vertritt sich die Beine. Sie finden mein altes Motorrad toll, ich ihr altes Auto. Als ich auf das Dachzelt deute, geben sie mir zu verstehen, dass sie darin auch schlafen. Unglaublich. Mit ein paar Brocken französisch und italienisch führen wir ein kleines Gespräch, bevor sich unsere Wege trennen. An meinen Sprachkenntnissen muss ich unbedingt arbeiten.
Auf der Weiterfahrt bietet sich ein prächtiger Blick auf Guillestre, dort wechsle ich auf die Nationalstraße, um noch vor Einbruch der Dunkelheit mein Ziel zu erreichen. Ein Tankstopp noch und ich stehe auf dem Parkplatz meines Hotels in Briançon. Es ist zwanzig vor sieben als ich den Motor abstelle.
Rund 200 erlebnisreiche Kilometer – und unzählige Fotostopps – liegen seit dem Start am Mittag hinter mir. Einen Teil der „Bilderausbeute“ habe ich hier veröffentlicht – war „zeitraubend“ (nicht im eigentlichen Sinne des Wortes) aber jeder Stopp hat sich gelohnt 😉
—
Auch den Verlauf dieser Tagesetappe haben wir in einem kleinen Reliefe-Video festgehalten, damit Du sehen kannst, wo wir überall lang gefahren sind.
x
Eine Traumgegend! Den Bonette habe ich bisher noch jedesmal mitgenommen, wenn ich in Frankreich war, ebenso den Vars. Es lässt sich einfach sehr sehr gut Motorrad fahren da drüben.
Vielen Dank für Deine Bilder – ich habe mich beim letzten Mal zu sehr dem Fahrspass hingegeben 😉
Allzeit gute Fahrt!
Jürgen von http://www.motorprosa.com