So muss es älteren Menschen gehen, die in ihrer Mobilität stark eingeschränkt sind: zum Stillsitzen verdammt, sitzt Du zu Hause, schaust aus dem Fenster und erinnerst Dich wehmütig der vielen tollen Reisen, die Du früher unternehmen konntest.
Gestern habe ich auf YouTube ein Video von zwei Wagemutigen entdeckt, die mit dem Motorrad hoch auf den Chaberton gefahren sind. Das ist mittlerweile verboten. Mitte 1980 war ich mit drei Freunden im italienisch-französischen Grenzgebiet zum Endurowandern unterwegs; der Chaberton war eines unserer Ziele. Daran hat mich dieser Clip erinnert:
Ausgangspunkt war einer der Zeltplätze in Briancon, der höchstgelegenen Stadt Europas. Sinnigerweise hatten wir unser „Lager“ unter einer Gruppe von Bäumen aufgeschlagen und uns gewundert, warum all die Anderen nicht auf diese geniale Idee gekommen waren. Am nächsten Morgen wussten wir es: wir waren die Einzigen, die beim Frühstück frierend im Schatten saßen …
Wenig später saßen wir auf unseren Mopeds: Peter auf einer G/S, Reiner auf einer XT, Speedy auf seiner Dominator und ich auf einer DR 650, die mir Suzuki Deutschland als Testmotorrad zur Verfügung gestellt hatte.
Die acht Geschütztürme oben am Berg sind gut zu sehen. Bild: Internet
Der Einstieg bei Fenils war schnell gefunden. Die acht Geschütztüme – oder was von ihnen übrig geblieben ist – waren schon vom Tal aus zu sehen. Ein Rifugio am Wegesrand ludt zu einem schnellen Espresso ein. Heute soll man hier angeblich vom Wirt ein „Sondergenehmigung“ zum Befahren des abenteuerlichen Schotterweges zum Gipfel bekommen, wenn man freundlich nachfragt. Ich würde es Niemandem empfehlen.
Kaum losgefahren, stellen sich bei uns schnell „Auflösungserscheinungen“ ein. Nur wenige Kilometer nachdem sich der schmale Asphaltweg mehr oder weniger in Wohlgefallen auflöst hatte, trat Peter als Erster den Rückzug an. Das Ganze sei ihm zu anstrengend, er wolle lieber im Gasthaus warten, ließ er uns wissen.
Mit Herzklopfen näherten wir uns der „Schlüsselstellung“ am „gespaltenen Fels. Da war die Trasse schon damals abgerutscht und nur notdürftig mit eine paar Brettern wieder in Stand gesetzt. Zu „meiner Zeit“ hatte der Weg noch deutlich mehr als eine Lenkerbreite und war auch nicht mit einem „Sicherungsseil“ versehen. So schmal wie im Video war er damals glücklicherweise nicht …
Mitte der 1980er Jahre war diese Stelle deutlich breiter / Bild: Internet
Am Zwischensattel angekommen, machte Reiner kehrt. Der Luftfilter seiner XT sei verstopft, meinte er, der Motor verliere an Leistung, eine Weiterfahrt bergan unmöglich. Blieben noch Speedy und ich für den „Gipfelsturm“.
Auf den weiteren Kilometern mutierte der Weg zum schmalen Eselspfad, den wir uns immer wieder mit Wanderern teilen mussten. Die zeigten sich (verständlicherweise) wenig kooperativ, waren damals doch zahlreiche Motorradfahrer am Berg unterwegs – und jeder fühlte sich vom Anderen gestört.
Kehre um Kehre, die immer enger wurden, kämpften wir uns dem Gipfelfort entgegen. Irgendwann entschwand Speedy aus meinen Augen. „Ich muss auf Zug fahren“, rief er mir noch zu – und schon war er weg.
Und jetzt noch Wanderer … / Bild: Internet
Kurz vor dem Gipfel nahm ich das Endurowandern dann wörtlich. Die Suzuki hatte mich immer wieder „abgeworfen“. Da ich wohl mit zu wenig Schwung in die Kehren gefahren war, starb mir regelmäßig der Motor mitten im Scheitelpunkt ab – und das Motorrad kippte um. Zwar wog der großvolumige Einzylinder „nur“ knapp 170 Kilo. Die aber in knapp 3.000 Meter Höhe mehrfach allein in die Senkrechte zu wuchten, war schon eine Herausforderung. Also blieb die Suzi irgendwann frustriert am Wegesrand stehen und ich ging zu Fuß weiter.
Die schweißtreibende „Wanderung“ sollte sich lohnen. Das, was am Gipfelplateau zu sehen war, war schon beeindruckend. Ich frage mich auch heute noch, unter welchen unmenschlichen Strapazen diese Festung wohl errichtet worden war – nur, weil man sich mit seinen Nachbarn nicht vertragen konnte oder wollte.
Tolle Aussicht vom Gipfelplateau. Der Weg dahin: mühsam / Bild: chandeve
Ende der 1870er Jahre hatten sich die Beziehungen zwischen Frankreich und Italien deutlich verschlechtert. In der Folge begann eine dramatische Aufrüstung am Alpenhauptkamm. In den Jahren 1880 bis 1890 wurden beispielsweise die Festungen am Col de Ende errichtet.
Pläne für den Bau einer gewaltigen militärischen Anlage auf dem 3130 Meter hohen Gipfelplateau des Mont Chaberton gab es, nachdem sich Italien 1882 mit Deutschland und Österreich verbündete hatte. Italien wollte sich gegen Frankreich schützen, fanden sich in unmittelbarer Nähe doch das Fort du Gondran sowie das Fort de l‘Olive.
Also wurde ab 1891 von Fenils aus mühsam ein insgesamt 14 Kilometer langer Weg in den Fels trassiert: die „Strada militare di Val Morino“ (oder auch „Strada militare dello Chaberton“). Nachdem auch die ersten Unterkünfte hoch oben am Berg fertig gestellt waren, konnte 1898 mit dem eigentlichen Bau der Festung begonnen werden. Bis zu 400 Arbeiter mussten sich in Spitzenzeiten – in dünner Luft und den Wetterkapriolen ausgesetzt – plagen, um insgesamt 8 Geschütztürme zu errichten – jeder 8 Meter hoch, mit einem Durchmesser von jeweils 7 Metern. Auf jedem Turm saß eine um 360 Grad drehbare Stahlkuppel, in der sich die Geschütze befanden. Die Pulverdepots wurden unterirdisch angelegt.
Blick auf die Baustelle im Jahr 1906. Quelle: westalpen.wordpress.com
Vollendet wurden die Bauarbeiten 1913. Doch schon zwei Jahre später wechselte Italien die Seiten und wurde so zum Verbündeten des einstigen Feindes Frankreich. Die Geschütze, die hier jetzt nicht mehr gebraucht wurden, wurden abgebaut und an die österreichisch-italienische Front gebracht.
1927 erfolgte unter Mussolini die Wiederbewaffnung. Der Westfeldzug der Wehrmacht war schon fast beendet, da erklärte der Duce Frankreich am 10. Juni 1940 den Krieg. Sechs Tage später, am 16. Juni 1940, wurden die ersten Geschütze vom Gipfelfort des Chaberton abgefeuert – 42 Jahre nach Baubeginn. Keine fünf Tage später war die Festung Geschichte. Die Franzosen nahmen den Chaberton ab dem 21. Juni von einer südwestlich von Briançon gelegenen Stellung unter Beschuss und zerstörten innerhalb kürzester Zeit sechs der acht Geschütztürme. Da diese oberirdisch – wie auf einem Präsentier-Teller lagen – benötigte die französische Artillerie lediglich zwei Tage, vier Mörser und etwa 100 Granaten, um die Anlage außer Gefecht zu setzen.
Versteckt hinter einem Felsvorsprung, vom Tal aus aber immer noch sichtbar –
das Fort auf dem Chaberton war wohl eine Fehlkonstruktion / Bild: Bartel Do
Angesichts der Geschichte des Berges war unser „Gipfelsturm“ auf zwei Rädern eher ein Spaziergang, auch wenn die Fahrt rauf auf 3130 Meter anstrengend und stellenweise nicht ungefährlich war. Umso schöner war die herrliche Rundum-Sicht, die wir genießen konnten.
Irgendwann mussten wir wieder runter ins Tal. Spätestens jetzt war ich froh, die letzten Kehren zu Fuß erklommen zu haben. Denn die waren richtig ekelig. Es ging steil bergab und die ersten Rechtskehren ließen sich nur hart am Lenkanschlag fahren. Die Frage war nur wie?
Den linken Fuß ab Boden, den rechten auf der Fußbremse. Vor uns der Abgrund. Die Handbremse war tabu, drohte bei einem blockierenden Vorderrad doch ein unkontrollierte Sturz in die Tiefe. Wie aber ums Eck kommen, wenn die Fußbremse nur wenig gelupft werden konnte, der rechte Fuß aber eigentlich zum Abstützen gebraucht wurde, weil es an Tempo zum Stabilisieren fehlte?
Zu zweit haben wir die Dominator irgendwie die ersten Hunderte an Metern bergab bugsiert. Kein einfaches Unterfangen. Leichter hatten es da schon die zahlreichen italienischen Trialfahrer. Die sind mit blockierten Hinterrad einfach in die Kehre gerutscht und haben im richtigen Moment wieder Gas gegeben – gewusst wie …
In unzähligen engen Kehren führt der schmale Weg hoch zum Chaberton,
dessen Gipfelplateau seit dem Friedensvertrag von 1947 zum Frankreich gehört.
Ob ich heute noch mal hoch auf den Chaberton fahren würde? Wahrscheinlich nicht. Selbst wenn es (wieder) erlaubt sein sollte, ist die Trasse mittlerweile doch arg abenteuerlich und stellenweise kaum noch passierbar. Außerdem war ich ja schon mal da und kann in Erinnerungen schwelgen.
Kein Durchkommen mehr. Am Loc Pra Claud, auf knapp 1.600 Metern,
ist Schluss für den motorisierten Verkehr hoch zum Chaberton. Bild: Passzwang.net
Andere „Chancen“ habe ich verpasst. Mitte der 80er sind wir während einer Alpentour wetterbedingt am Gardasee gestrandet. Den damals noch frei befahrbaren Tremalzo und andere „Militärstraßen“ haben wir mit zwei BMW-Gespannen, einer K 100 und mit meiner R75/5 bezwungen – auf Straßenreifen, versteht sich. Denn Pasubio hatten wir uns bis zum Schluss aufgehoben, dann aber keine Lust mehr. Die Luft war raus. „Den fahren wir ein andermal“, hatten wir uns versprochen. Dazu kam es nie. Mittlerweile ist auch der Passubio gesperrt. Noch nicht einmal mit dem Fahrrad darf man die abenteuerliche Trasse durch die 50 in den Fels gehauenen Galerien mehr fahren.
Vielleicht sollte ich mehr wandern. Da ist vieles noch erlaubt …