Ich kann mein Glück kaum fassen. Die Sonne scheint, die Straßen sind trocken, strahlend blauer Himmel, keine Spur von Frühnebel und überfrierender Nässe, wie man sie in den Bergen immer mal antrifft. Herrlich! Briançon erwacht so langsam zum Leben und wir genießen das Frühstück im Edelweiß. Unterdessen macht sich bereits eine Gruppe italienischer Motorradfahrer auf den Weg – wir werden in Kürze folgen.
Der Col d‘Izoard (2360 Meter) ist das erste Ziel des heutigen Tages, der liegt quasi direkt hinter dem Hotel – zur Passhöhe sind es kaum mehr als 20 Kilometer. Die Nordrampe liegt weitgehend im Schatten, entsprechend knackig sind die Temperaturen – das Themometer zeigt gerade einmal knapp einstellige Werte.
Oben am Pass parkt einem Reisebus nahe des Obelisken. „Als ob der sich nicht auch auf die andere, nicht so fotogene Straßenseite hätte stellen können“, denke ich mir. Doch der Ärger verfliegt rasch, als sich die Sonne – kaum dass wir die Motorräder abgestellt haben – über den Berg schiebt. Ein tolles Bild. Und letztlich hatte der Bus auch was Gutes: ich entdecke die Reisegruppe ein paar Meter über mir an einem „table d’orientation“ den ich bislang noch nicht kannte. Beim nächsten Mal …
Wir stürzen uns ins Tal, vorbei an den berühmten Erdpyramiden. Alex hängt mir im Nacken. Schon beim Anstieg zum Izoard hatte ich gemerkt, dass es ihm nicht schnell genug geht. Also setze ich den Blinker rechts und lasse ihn überholen, hatten wir doch „freies Fahren“ vereinbart, mit Treffpunkt am jeweils nächsten Pass.
Der liegt für uns in Italien. Den relativ unbekannten Col d‘Agnel (2744 Meter) steuern wir an, ein Traumpass, vor allem bei einem Wetter wie heute. Schon die Anfahrt ist ein Genuss. Die Landschaft hat sich in ein herbstliches Kleid gehüllt, die Farben leuchten und das kleine Flüsschen Le Guil plätschert munter rechts der Straße.
Zufahrt zum Col d‘Agnel – einfach s e n s a t i o n e l l
Die Aussicht vom Pass hinüber nach Italien ist sensationell: dichte weiße Wolken hängen in den Tälern, wie große Wattebäusche. Das gibt es so nur an einem sonnigen Herbsttag, wie wir ihn heute erleben.
Kurvenreich geht es wieder ins Tal, mit einem kurzen Fotostopp am „Lago artificale di Castello“, dann weiter bis Sampeyre. Hier zweigt rechts die schmale „Via Elva“ zum Col de Sampeyre (2284 Meter) ab. Ein Sträßchen, wie ich es liebe. Über viele, viele Kilometer schlängelt es sich einsam und unübersichtlich die Bergflanken empor, zwei Motorradfahrer und ein Auto kommen mir entgegen, das war’s. Genüßliches Motorradwandern ist angesagt.
Oben am Pass ein paar Motorradfahrer, jede Menge Schilder und eine fantastische Aussicht. Wir verweilen einen Augenblick und genießen die Stille, als wir Col de Sampeyre minutenlang ganz für uns haben.
Hat fast was Meditatives: am Col de Sampeyre
Der Colle di Sampeyre bildet den Übergang vom malerischen Mairatal zum Vareitatal. In beiden gibt es herrliche Strecken zum Endurowandern; eine zweigt direkt von der Passhöhe ab. Wir wagen ein ganz anderes Abenteuer und fahren durch die spektakuläre Elva-Schlucht. Schon der Weg dorthin ist überaus reizvoll.
Elva selbst ist ein nahezu unberührtes Bergdorf, das „Perle des Valle Maira-Tals“ gilt. Im 19. Jahrhundert machten die Menschen aus ihrer Not eine Tugend und sammelten Haare, um daraus Perücken zu machen. Ein blühender Wirtschaftszweig entstand, selbst der Hof der Lords von London galt als Kunde.
Die schmale SS104 führt, teilweise nur mit einem Hauch von Randsicherung durch das wildromantische Vallone d’Elva. Teilweise ist das kurvenreiche Asphaltband direkt aus dem Fels gesprengt, in einigen Abschnitten klebt es über einer Schlucht. Wir müssen durch enge Felstunnel, überall auf der Straße liegt Geröll, manchmal auch kleine Felsbrocken. An einer der Felsen wird um himmlischen Beistand gebeten, den kann man hier auch brauchen.
Als wir am Ende der abenteuerlichen Strecke wieder auf die Hauptstraße treffen, finden wir am Straßenrand längliche Betonsperren, die aber von Gras überwuchert werden. Im Netz lesen wir später, dass die Strecke wohl mal wegen Baufälligkeit gesperrt werden sollte, ein Befahren auf eigene Gefahr aber immer noch möglich sei – oder auch nicht. Wir haben jedenfalls keine Verbotsschilder gesehen; kurz nach uns durchquerte eine italienische Motorradgruppe die Schlucht …
So langsam wäre es Zeit für ein Mittagspäuschen. Doch wir sind Irgendwo im Nirgendwo. Also fahren wir erst einmal weiter, zum Col d’Esischie (2370 Meter). Die Straße ist schmal, kurvenreich und herausfordernd. Immer wieder haben die Wurzeln der Bäume den Asphalt aufgebrochen und so kleine Rampen geschaffen, die bergan nur im Schritttempo überfahren werden können. Kein einfaches Unterfangen. Und so weisen denn auch immer wieder ganze Schilderwälder auf mögliche Gefahren hin. Schon dafür liebe ich Italien …
Am Col d’Esischie angekommen, treffe ich Alex, der jetzt nach einem Lokal für eine kurze Rast suchen will. „Ich fahr wieder vor“, ruft er mir zu, während ich erst einmal ein paar Fotos mache.
Als ich weiterfahre, stelle ich fest, dass Alex offensichtlich falsch abgebogen ist. Zum Colle dei Morti (2481 Meter) geht es rechts ab, weiter bergauf, Alex aber ist links den Berg hinunter gefahren. Und nun?
Ich beschließe, wenigsten zum nächsten Pass zu fahren, liegt der doch nur ein paar hundert Meter weit entfernt. So kann ich zumindest ein „Gipfelfoto“ machen. Oben am Pass steht ein steinernes Denkmal für den verstorbenen Radprofi Pantani – und ein ratloser GS-Fahrer mit einer Landkarte in der Hand. Der Gute scheint ein wenig die Orientierung verloren zu haben und weiß nicht so recht, welche Richtung er einschlagen soll. Schotter will er wohl nicht fahren, als ihm ein Italiener von der nahegelegenen unbefestigten Maira-Stura-Kammstraße vorschwärmt, die wir vor Jahren auch schon mit wachsender Begeisterung unter die Stollenreifen genommen haben. Die SP268 aber, am Colle dei Morti, soll eine befestigte Querverbindung sein, die nach Demonte führt.
Ausprobieren kann ich das nicht, denn ich will Alex nicht alleine lassen. Also wende ich kurzerhand und fahre schweren Herzens ebenfalls in die „falsche“ Richtung. Wenig später treffe ich ihn in einem kleinen Rifugio, wo er auf mich wartet. Ich unke, dass er sich absichtlich verfahren habe, weil der Umweg, den wir nun über Borgo San Dalmazzo nehmen müssen, über breite Straßen führt und nicht weiterhin über kleine ekelige „Schiss-Straßen“, die ich so liebe. Alex aber beteuert, dass sein Navi ihm diesen Weg gewiesen habe, er hätte leider nur die Pässe als Wegpunkte und nicht die Route selbst programmiert. Sei’s drum, wir gönnen uns erst einmal eine leckere „Torta Frutti di Bosco“ und machen uns dann auf den Weg. Wird jetzt wohl etwas später werden …
Mit ein Grund, warum ich so gerne in den Bergen bin …
Der Colle della Lombarda (2350 Meter) ist der letzte große Pass des heutigen Tages. Es ist schon fast fünf Uhr, als ich die Passhöhe erreiche – musste ich doch unterwegs noch viele schöne Fotos machen. Die Reste einer Festung und zahlreiche Geschütztürme in den Bergen zeugen von der kriegerischen Vergangenheit auch diese Alpenübergangs. Heute verläuft hier die Grenze zwischen Italien und Frankreich.
Noch gut 100 Kilometer und wir sind am Mittelmeer. Alex gibt seiner RT die Sporen, will es doch möglichst noch vor 19:00 Uhr in unserer Auberge sein. Ich trödele ein wenig hinterher, möchte ich doch bei dem prächtigen Wetter noch ein wenig die herrlichen Ausblicke auf eine sensationelle Landschaft genießen.
Vom Lombarde geht es hinunter nach Isola, wo die Straße wieder auf die zum Col de la Bonette führende „Route des Grandes Alpes“ trifft. Nun geht es immer Richtung Süden, vorbei an Saint-Sauveur-sur-Tinée hinein in die „Alpes Maritimes“. Je mehr ich mich Nizza nähere, umso dichter wird der Verkehr. Dann geht es in einer langen Schlange nur noch im Stopp-and-go voran. Schon bald ballern die erste Motorradfahrer an mir vorbei. Links neben den Autos ist schließlich noch Platz vorhanden. Das sollte auch für eine G/S mit ausladenden 45 Liter-Alukoffern reichen, denke ich mir und zirkele mein Schlachtschiff elegant am Stau vorbei. Keiner hupt, alle machen Platz – warum nur funktioniert das bei uns nicht?
Die Fahrt quer durch Nizza ist dann ein besonderes „Vergnügen“. Ich mag das ja, sich „mit dem Messer zwischen den Zähnen“ durch den dichten Innenstadtverkehr zu kämpfen. Jeder sucht seinen Vorteil, geht aber auf die Bremse, wenn der Plan nicht funktioniert. Hochkonzentriert und nach meinen Lücken suchend bugsiere ich die G/S, den todesmutigen Rollerfahrern folgend, durchs Zentrum und finde immer mehr Gefallen an dieser Art der Fortbewegung.
„Ich muss noch ans Meer“, denke ich mir in all dem Chaos und finde bald einen Weg an die Uferpromenade. Doch es gibt keine Möglichkeit zum Halten. Alles ist abgepollert oder mit hohen Bürgersteigen versehen – Folge des Attentats vor einigen Jahren. Also quetsche ich meine G/S an den Rand eines breiten Fußgängerüberwegs und hoffe, dafür kein Knöllchen zu bekommen, sind doch überall Videokameras installiert. Aber ein Bild vom Meer, dass muss heute noch sein.
Um 18:50 Uhr bin ich (fast) am Ziel: der Colt d`Azur
So langsam wird es dämmerig und ich muss zusehen, unsere Unterkunft für die nächste Tage zu erreichen, bevor es dunkel wird. Schnell noch tanken, auch wenn die Auberge nur noch wenige Kilometer entfernt liegt. Die Straße führt nun die Küste entlang; auch wenn es schon spät ist, schieße ich kurz vor dem Ziel noch ein letztes Foto für heute – mit Blick auf die Côte d’Azur. Auf die fünf Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Es ist kurz nach halb acht, als ich mein Ziel erreiche. Fast elf Stunden war ich unterwegs, um eine Strecke von 330 Kilometern zurück zu legen. Es war ein fantastischer Tag mit imposanten Eindrücken. Wie gut, dass ich für den dienstlichen Termin in Eze-sur-mer nicht den Flieger, das Auto oder die Bahn genommen habe …
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Auch von dieser Etappe gibt es ein kleines Relive-Video, damit Du nachvollziehen kannst, welche Strecken wir gefahren sind:
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Herrlich! Da werden wundervolle Erinnerungen wach. Auf der gleichen Strecke von Briançon über den Col d‘Izoard durch das wilde Piemont bis über den Col de la Lombarde waren nämlich auch Freund Andreas und ich voriges Jahr im Rahmen einer Roadbooktour unterwegs – nur halt genau anders rum. Leider blieb uns die Elva-Schlucht verwehrt, weil die Straße im unteren Teil vor einem Tunnel völlig von Geröll verschüttet war. Hätte nicht gedacht, daß die Italiener die Passage so schnell wieder flott kriegen. Zum Glück aber nehmen es die Straßenbauer nicht ganz so genau und belassen viele Passstraßen in Enduro würdigem Zustand 😉 Hier jedenfalls war kein Durchkommen. Wir mussten wir über Stroppo ausweichen. Auch schön. Am Fuße des Col d’Esischie haben wir übrigens in dem Dörfchen Marmora in der wundervollen Pensione Ceaglio Rast gemacht. Lecker Mahlzeit, urgemütlich, unvergesslich.
Nun freue ich mich auf viele weitere spannende Reiseberichte
Bis bike:-) Arist