LAGO DI LEDRO: 2. TOURTAG / Dienstag, 18.6.2019 – Ob ich den Mortirolo schon gefahren bin? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Im vergangenen Jahr wollte ich von Imst aus zum Stilfser Joch und dann weiter zum Gavia. Leider, so hatte ich es auf Facebook beklagt, müsste ich den Rückweg über den gut ausgebauten Tonale planen, wollte ich keinen zeitraubenden Umweg über Edolo fahren.
Keineswegs, hieß es kurz darauf in einer Nachricht im Messenger. Such mal nach dem kaum bekannten Mortirolo. Über den kommst Du wieder gut zurück und kannst anschließend den Umbrail für die Rückfahrt einplanen. Genial!
Hat am Ende alles aus zeitlichen Gründen nicht geklappt, aber der Mortirolo steckte mir in der Nase. Und als klar war, dass dieser kleine Pass vom Gardasee aus in einer Tagestour erreichbar ist, stand der als eines der Ziele für 2019 quasi schon fest. Heute also Mortirolo. Erwartungsvoll starten wir um kurz nach 9:00 Uhr vom Hotel Garden.
Eigentlich wollten wir, wenn wir schon „in den Norden fahren“, auch den Gavia noch mitnehmen. Der blieb aber länger als sonst unter dicken Schneemassen verborgen. Noch nicht einmal zum Giro Anfang Juni konnte der legendäre Pass frei gegeben werden, so dass wir uns auf keine Experimente einlassen wollten.
Mit Bedienung kostet der Liter mindestens 10 Cent mehr
Erst einmal war tanken angesagt. Gleich hinter Storo fand sich dazu Gelegenheit. Doch Vorsicht: an unterschiedlichen Zapfsäulen gelten unterschiedliche Preise! An einer Reihe ist Selbstbedienung und damit ein „günstigerer“ Preis angesagt, an der anderen wird bedient. Der oft saftige Aufschlag – bis zu 20 Cent pro Liter – wird auch dann fällig, wenn man selbst zur Zapfpistole greift.
In Tione di Trento wollte ich eigentlich auf den Passo Daone abzweigen. Das kurvenreiche Sträßchen, das eine Höhe von 1295 Metern erreicht, soll insbesondere auf der Nordrampe recht steil und schmal sein – und stellenweise unbefestigt, wie Stefan feststellt. Er hat im Navi einige gestrichelte Abschnitte entdeckt, die in der Regel auf fehlenden Asphalt hinweisen. Also bleiben wir (schweren Herzens) auf der gut ausgebauten Staatsstraße und legen die erste Kaffeepause unbeschadet am „Campo Carlo Magno“ vor prachtvoller Kulisse ein.
Bei so einer Aussicht schmeckt der Kaffee noch mal so gut 😉
Die oft vielbefahrene SS42, die zum Passo Tonale führt, ist an diesem Dienstagmorgen erfreulich leer, so dass wir zügig vorankommen. Stefan legt mit seiner Gruppe noch einen kurzen Fotostopp am Fort Strino ein, während wir einen GS-Fahrer aus Rosenheim vor uns hertreiben.
Fotostopp an einem Überbleibsel des österreichisch-ungarischen Festungsriegel am Tonalepass
Das Werk Strino war eines von insgesamt vier Sperrwerken des österreichisch-ungarischen Festungsriegel am Tonalepass. Nachdem der einstige Karrenweg über den Pass 1859 zu einer leistungsfähigen Verbindung ausgebaut worden war, wurden sich die Akteure der Gefahr bewusst, dass man damit durchaus auch ein Einfallstor für die gegnerischen, italienischen Truppen geschaffen hatte. Die im Anschluss errichte Sperrgruppe, zu dem neben dem Werk Strino auch das Werk Presanella (im Süden) und die Werke Merlo und Tonale (im Norden) gehörten, hatte folglich die Aufgabe, das Val di Vermiglio und damit auch das Val di Sole abzuriegeln.
Bald darauf ist der Tonalepass erreicht. Es wird merklich frisch auf 1884 Metern. Vielleicht hat es ja sein Gutes, dass wir von hier aus nicht zum Gavia fahren – der wäre 2618 Meter hoch. Der Tonale trennt das lombardische Valcamonica vom bereits im Trentino gelegenen Val di Sole, auch Sulztal genannt. Auf der Passhöhe steht eine mächtige Gedenkstätte mit Beinhaus (Ossario) für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten.
Die Gedenkstätte am Tonale für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs
Jetzt ist es nicht mehr weit zum Mortirolo, dem eigentlichen Ziel der heutigen Tagestour. Ein kleines kurvenreiches Sträßchen windet sich nahe Monno den Berg hinauf und lässt die breite Staatsstraße schnell hinter sich.
Nur noch wenige Kilometer und die ausladende Terrasse des Hotel Belvedere, die hinter einer Kehre auftaucht, signalisiert: wir haben unser Etappenziel erreicht.
Die letzten Kehren vor der Mittagspause
Zeit für eine ausgiebige Mittagspause, in der sich der eine oder andere erst einmal orientiert, wo wir denn jetzt sind. Erika, unsere Gastgeberin, empfiehlt, neben dem Klassiker Spagetti Bolognese auch eine lokale Spezialität aus dem lombardischen Veltin: Pizzocheri – das sind Nudeln aus Buchweizenmehl, die typischerweise mit Wirsing und Kartoffeln sowie Käse vermischt werden. Sieht vielleicht nicht besonders lecker aus, schmeckt aber hervorragend.
Für die Rückfahrt zum Hotel gibt es zwei Möglichkeiten: in einem Bogen über ein kleines, kurvenreiches Sträßchen Richtung Mazzo di Valtellina oder über die Höhenstraße Richtung Megno. Als gutes Team teilen wir uns auf: Stefan nimmt die kurvigere Variante unter die Räder, ich die etwas direktere, um schon mal auskundschaften zu können, ob wir über den Croce Domini kommen. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass dieser gesperrt sei, wenngleich im Netz dazu keine Infos zu finden sind.
Auf der Höhenstraße liegt an den Rändern noch Schnee. Vor gut zwei Wochen dürfte hier noch kein Durchkommen gewesen sein.
Schneereste auf 1.800 Meter – kein Wunder dass der nahegelegene 2.600 Meter hohe Gavia so lange unpassierbar war
Über weite Strecken fahren wir auf parallel zur SS42 verlaufenden Provinzstraßen. In Breno zweigen wir auf die kurvenreiche „Abkürzung“ zum Croce Domini ab – und sind zuversichtlich. Keines der zahlreichen Hinweisschilder deutet auf ein mögliches Fahrverbot hin, zudem kommen uns zahlreiche Motorradfahrer entgegen. Der Pass scheint offen.
Von wegen! Als wir auf die SPB345 abbiegen steht da unmissverständlich in weißer Schrift auf rotem Untergrund: chiuso. Der Pass ist dicht! Nun ist guter Rat teuer. Denn die „Umleitung“ würde uns mindestens zwei Stunden zusätzliche Fahrzeit kosten. Also sollten wir einfach mal schauen, warum die Straße gesperrt ist. Meist gibt es ja doch irgendeine Möglichkeit …
Der Pass ist geschlossen. Heißt dies, dass ein Passieren unmöglich ist?
15 Kilometer sind noch es bis zum Rifugio oben am Pass. Eine Distanz, die wir zur Not auch zurückfahren könnten, wenn wirklich nichts geht. Von einigen Hinweisschildern abgesehen, die auf irgendwelche Bauarbeiten hinweisen, verläuft die Fahrt zunächst völlig problemlos. Dann erreichen wir eine Passage mit heftigem Windbruch. Entwurzelte Bäume haben den Asphalt beschädigt, mächtige Baumstämme liegen im Hang. Eine gespenstige Szenerie. Sollte das der Grund für die Sperre sein? Ein Haftungsausschluss, falls hier Holz ins Rutschen kommt?
Irgendwie bedrückend und unheimlich war die Fahrt ja schon
Wenige Kilometer später stehen wir mitten in einer Baustelle. Arbeiter befestigen den Hang mit neuen Steinen, die ein großer Bagger gerade zur Seite räumt. Hier ist erst einmal kein Durchkommen mehr – es gibt aber auch keinen Grund zur Resignation. Das Beste wird sein: wir warten erst einmal geduldig am Straßenrand und stören Niemanden. Der Rest wird sich weisen.
Der Baggerfahrer hat uns zumindest schon bemerkt, baggert aber erst einmal munter weiter. Nach ein paar Minuten fährt er zur Seite, so dass wir freundlich grüßend weiterfahren können. Auch eine zweite Baustelle können wir so passieren. Nun müssen wir uns nur noch an der Betonsperre vorbeiquetschen, die kurz vor dem Pass quer über der Straße liegt, dann sind wir durch! Geschafft, wer hätte das gedacht?
Noch einmal Luft anhalten – aber der Platz reicht
Wie genießen unseren „Erfolg“ bei einem leckeren Espresso und machen am Croce Domini ein „Heldenfoto“. Da, wo sonst die Motorräder reihenweise parken, stehen heute nur wir und sorgen im Rifugio wenigsten für ein bisschen Umsatz.
Wir sind tatsächlich durchgekommen
Schnell schreibe ich Stefan eine SMS. „Fahrt vorsichtig, in der Baustelle keine Hektik, dann sollte es auch bei Euch klappen“. Und doch wäre die Fahrt zum Croce Domini bei der zweiten Gruppe fast schief gegangen. Als der Baggerfahrer freundlicherweise wieder Platz macht, wartet Stefan noch auf das „Durchfahrtssignal“. Einem Teilnehmer dauert das zu lange – und er fängt an zu hupen. Das beziehen die Bauarbeiter natürlich auf sich und geben der Gruppe unmissverständlich zu verstehen, dass sie rumdrehen soll. Der Pass sei schließlich offiziell geschlossen. Glücklicherweise winkt genau in diesem Moment der Baggerfahrer Stefan zu – er könne jetzt fahren -, was dieser und alle anderen auch sofort tun. Glück gehabt.
Wenn man nicht drängelt, sind die Italiener in diesen Dingen deutlich entspannter als wir. Ich kann mich an eine Endurowanderung mit Richard Schalber erinnern. Wir waren am Lago di Caldonazzo unterwegs, zu einer der alten Festungen, die nur über unbefestigte Wege zu erreichen ist. Auf dem Weg dorthin mussten wir durch eine Baustelle. Berge von Schotter türmen sich auf der Straße, oben drauf ein Bagger. Natürlich gab es zuvor ein Schild, dass die Straße eigentlich gesperrt sei. Aber Adele, die uns begleitete und gut italienisch sprach, fragte den Baggerfahrer, ob er nicht ein Stück zur Seite fahren könne, dann könnten wir weiterfahren. Und wenn er schon so nett, wäre, könnte er uns auf unserer Seite schnell noch eine Rampe schaufeln, da der vorhandene Absatz doch ganz schön hoch sei.
Was macht der Baggerfahrer? Schaufelt uns die Zufahrt plan, fährt seinen Bagger zur Seite, zündet sich eine Zigarette an und amüsiert sich minutenlang köstlich, wie wir uns mit unseren Enduros über den lockeren Steinhaufen quälen. In Deutschland undenkbar.
Die Straße runter ins Tal haben wir fast für uns alleine. Nur dreimal kommen uns ein paar Motorradfahrer entgehen. Ansonsten sind wir allein unterwegs in den Bergen.
Noch ein abendlicher Tankstopp, dann sind wir zurück im Hotel. Auch heute wartet wieder ein leckeres Abendessen auf uns: Geräucherte Hühnchen-Gelatine mit Balsamico-Essig und Senf-Zwiebel-Sauce, Confit-Forellen-Steak mit Basilikum-Risotto sowie gegrilltes Spanferkelfilet mit geschmorten roten Zwiebeln und Flocken von Trentingrana-Käse
Natürlich gab es auch einen leckeren Nachtisch.
Das Abendessen konnten wir wieder zusammen auf der sommerlichen Terrasse genießen – herrlich.
Morgen wollen wir auf etwas breiteren Straßen über den Bondone zum Mendelpass und über den malerischen Lago di Tovel zurück zum Hotel fahren.